Reißen Kreuzbänder eigentlich auf der Untersuchungsliege? Wohl eher nicht! Außer das Kreuzband ist bereits stark vorgeschädigt oder frisch fixiert. Weshalb überprüfen Kniespezialisten aber die Stabilität des Kreuzbandes im Liegen? Die Antwort lautet: „Kontrolle der mechanischen Kniestabilität.“
Mythos Nr. 1: Mechanische Kniestabilität reicht aus
In der Regel hat ein Operateur seine Arbeit nach einer erfolgreichen Kreuzband-OP erledigt. Nun stabilisiert die Kreuzbandplastik den Unterschenkel nach vorne. Das ehemals verletze Kniegelenk ist jetzt mit dem neuen Kreuzbandersatz (meist mit der Semitendinosus-Sehne) mechanisch stabil. Der entscheidende „Rest“, nämlich das Aufbautraining nach dem Kreuzbandriss, obliegt dem Patienten und seiner Physiotherapie.
Doch nur mit einem mechanisch stabilen Kniegelenk hat der Kreuzband-Patient nicht lange eine Freude. Der erste Zweikampf, ein Kopfball mit einer unglücklichen Einbeinigen-Landung oder das gewöhnliche Schlagloch beim Joggen sind für das mechanisch stabile Knie eine „reißende“ Herausforderung.
Funktion des Kreuzbandersatzes ist kein Selbstläufer
Denn im Alltag und Wettkampfsport zählen vor allem dynamische, kraftvolle und schnelle, reaktive Bewegungen. Diesen Bewegungsausgleich leistet das mechanisch stabile Kniegelenk nicht automatisch. Neue mechanisch stabilisierte Kreuzbandersatzplastiken sind zunächst „untrainiert“ – man könnte auch lapidar sagen: „naiv“ oder ohne Lernerfahrung. Denn sämtliche Rezeptoren (Fühler) im Kniegelenk sowie in den umgebenden Strukturen sind durch die Kreuzbandverletzung (VKB-Ruptur) mit anschließender Kreuzband-OP geschädigt. Damit ist die Vernetzung zum ZNS (Gehirn und Rückenmark) unterbrochen. Das ZNS nimmt seine Aufgabe als Schaltzentrale für Bewegungsausführung und -steuerung nicht mehr vollumfänglich wahr. Die Wege zum neuronalen Bewegungszentrum und zurück zur Muskulatur muss jeder Patient einem Kreuzbandriss wieder lernen. Das geschieht über das sensomotorische Training (SMT).
Sensomotorik als Schlüsselfaktor im Aufbautraining nach Kreuzbandriss
Kniespezialisten sprechen in der Fachwelt von einem sensomotorischen Defizit – leider zu selten gegenüber dem Patienten. Ihm wird sein Kniegelenk, nach der Kreuzbandriss-OP, als stabil „verkauft“ – was mechanisch auch zutrifft. Doch für die sichere Sportrückkehr nach dem Kreuzbandriss muss das Knie funktional stabil sein. Fußball beispielsweise ist eine interaktive Sportart – Bewegungen finden in der Aktion und Reaktion von Umweltreizen (Gegner) statt.
Sensomotorische Übungen verbessern die Wahrnehmung von Kniegelenkpositionen und die motorische Ansteuerung der Muskulatur um das Kniegelenk. Damit wird gezielt die Fähigkeit trainiert, instabile und daher kritische Körper- beziehungsweise Gelenkpositionen zu korrigieren (zum Beispiel das Umknicken nach einem Sprung). Darüber hinaus schulen sensomotorische Übungen die Gleichgewichtsfähigkeit und Koordination, was zur wichtigen Verbesserung von Bewegungsabläufen beiträgt.
Das Aufbautraining nach einem Kreuzbandriss muss das Training des sensomotorischen Systems (SMS) beinhalten – sonst steigt die Wahrscheinlichkeit für einen erneuten Riss (VKB-Reruptur).
Mythos Nr. 2: Nur Kraft sichert Kreuzbandriss-Prävention
Die sensomotorischen Fähigkeiten sind nach einer Kreuzbandverletzung generell stark reduziert – da hilft auch der beste Operateur nicht.
Denn die Rezeptoren (Sensorik) sind durch das ursprüngliche Trauma und die anschließende Knie-OP stark geschädigt. Diese „angeschlagene“ Wahrnehmungsfähigkeit hat entsprechend Einfluss auf die Bewegungsausführung (Motorik). Denn sämtliche Körperbewegungen bestehen aus dem Wechselspiel zwischen sensorischen Reizen und motorischer Umsetzung – diese perfekt aufeinander abgestimmte Zusammenarbeit hat auch Auswirkungen auf die Muskelkraft. Jeder Patient sieht den Kraftverlust nach der Kreuzband-OP mit anschließender Immobilisation – dünne Oberschenkel.
Was die wenigsten Patienten wissen, auch der Kraftaufbau (Zunahme der Muskelmasse) findet im sensomotorischen Training (SMT) statt. Egal, ob sensomotorische, koordinative oder propriozeptive Trainingsform – sie alle zielen auf das Wiedererlernen von harmonischen Bewegungen und Bewegungskontrolle nach Knieverletzungen ab.
Krafttraining fördert nicht allein den Oberschenkelumfang
Ein wichtiger Faktor sämtlicher motorischer Leistungen ist die Koordination. Sie bildet die Grundlage aller sportlichen Eigenschaften, wie Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit (Agilität) und Beweglichkeit. Das Ziel aller zukünftigen Sportler liegt im Erreichen einer gewollten (zielgerichteten) Bewegung mit entsprechend hoher ökonomischer Qualität – die harmonische und geschmeidige Bewegung.
Koordination bewirkt:
- Einen verminderten Energieaufwand
- Einen reduzierten Krafteinsatz
- Eine verbesserte Ausdauer (geringere Ermüdbarkeit).
Koordinationstrainings bedeutet die Reduzierung des Energieaufwandes bei gleichbleibender oder höherer muskulärer Leistungen (intra- und intermuskuläre Koordination).
Unsichtbare Koordination und trotzdem so zentral
- Intermuskuläre Koordination bezeichnet die Abstimmung mehrerer Muskeln innerhalb eines zielgerichteten Bewegungsablaufes. Mit zunehmender intermuskulärer Koordination wirken verschiedene Muskeln besser ineinander – die Bewegung „fließt“.
- Intramuskuläre Koordination beschreibt das Nerv-Muskel-Zusammenspiel (neuromuskuläre Abstimmung) eines einzelnen Muskels innerhalb eines gezielten Bewegungsablaufs. Mit zunehmender Aktivierung mehrerer Muskelfasern im Muskel steigt die Kraft – der Muskelquerschnitt nimmt zu.
Die maximale Kraft eines Muskels (Maximalkraft) ist von der Anzahl seiner Myofibrillen (Muskelzellen), die wiederum Muskelfasern bilden, im physiologischen Querschnitt abhängig. Ein regelmäßiges Krafttraining führt zu einer Querschnittsvergrößerung der Muskelfasern (Hypertrophie), die dadurch zustande kommt, dass die Anzahl der Myofibrillen in den Muskelfasern zunimmt. Eine Vermehrung von Muskelzellen (Hyperplasie) ist umstritten bzw. nicht (eindeutig) belegt.
Der Kreuzband-Patient macht die Erfahrung, dass im Kreuzbandriss-Reha-Verlauf die Muskelkraft deutlich stärker zunimmt, als es nach dem Ausmaß der Querschnittsvergrößerung anzunehmen wäre. Das so baldige Auftreten des Kraftzuwachses ist mit einer reinen Neubildung der Muskelzellen allein nicht erklärbar – dies braucht wesentlich mehr Zeit. Die kurzfristig einsetzende Wirkung des Krafttrainings ist vor allem in einer verbesserten Erregungsübertragung durch das sensomotoriche Training sehen – intramuskuläre Koordination. Verstärkt triggern die ankommenden Nervenimpulse die motorische Einheiten. Das bedeutet für das Aufbautraining nach einem Kreuzbandriss, zuerst kommt es zu einer verbesserten intramuskulären Koordination, dann erst folgt die Muskelfaserzunahme – das dünne Bein gewinnt an Muskelumfang.
Damit möchte ich auf keinen Fall, den Muskelaufbau mittels Krafttraining den Kampf ansagen, sondern das herausheben, dass reines Training von Kraft nicht die Grundlage für Koordination darstellt, sondern eher umgekehrt.
Daraus ergeben sich einige interessante Übungsaspekte für das Aufbautraining nach dem Riss des vorderen Kreuzbandes:
- Im Aufbautraining zählt das geschickte Zusammenspiel von Kraft und Koordination – am besten in einer Übung.
- Isolierte Kraftübungen an „geführten“ Geräten fördern, weder die Koordination, noch die funktionale Kniestabilität.
- Übungssteigerungsformen zeichnen sich durch Komplexität und nicht durch reines Gewicht aus.
Mythos Nr. 3: Vorne hui – hinten pfui
In der Kreuzbandriss-Reha steht das Aufbautraining der vorderen Beinmuskulatur (M. Quadriceps) bei jeder Physiotherapie ganz oben auf der Prioritätenliste. Der Hauptgrund für das Aufbautraining des M. Quadriceps besteht darin, dass die vordere Beinmuskulatur für die Beinstreckung verantwortlich ist – eine Voraussetzung für das flüssige Gehen. Das E-Book „Vernachlässigte Beinrückseite gezielt trainieren“ beinhaltet 30 Übungen mit Koordinationstraining ausschließlich für die hinteren Oberschenkel.
Prävention bedeutet vor allem Training der hinteren Oberschenkel
Doch was ist mit der Beinrückseite? Wieso finden die hinteren Oberschenkelmuskeln so wenig beachten in der Kreuzbandriss-Reha. Denn auch die rückseitige Oberschenkelmuskulatur (ischiocrurale Muskulatur oder engl. Hamstring) ist nach der Immobilisation und der Sehnenentnahme (Hamstring-Sehne als Kreuzbandersatz) massiv geschwächt. Das sensomotorische Defizit hinterlässt auch hier seine Spuren – deutlich verlangsamte Reaktionszeiten.
Muskuläre Dysbalance ist ein hohes Verletzungsrisiko bei Rissen
Zusätzlich, und diesen Sachverhalt sollte sich jeder sportliche ambitionierte Kreuzbandriss-Reha Patient auf der Zunge zergehen lassen, begünstigt eine dominante vordere Oberschenkelmuskulatur einen erneuten Kreuzbandriss (VKB-Reruptur). Mehr als die Hälfte aller neuen VKB- Rerupturen gehen auf das Konto, einer muskulären Dysbalance zwischen vorderer und hinterer Oberschenkelmuskulatur. Damit wird es höchste Zeit, im Aufbautraining, die volle Aufmerksamkeit der Beinrückseite zu schenken.
Mythos Nr. 4: Oberkörperstabilität als Nebenprodukt des Aufbautrainings
Diagnose und Untersuchung der Rumpf-, Hüft- und Gesäßmuskulatur spielen in der praktischen Medizin nach Kreuzbandrissen eine ebenso untergeordnete Rolle, wie die funktionale Kniestabilität. Auch bei der Entscheidung, über eine Rückkehr zum Sport nach einem Kreuzbandriss, findet ohne die systematische Untersuchung der stabilisierenden Rumpf- und Hüftmuskulatur statt.
Tragisch, denn eine gute Rumpfstabilität ist ein Präventionsfaktor bei zukünftigen vorderen Kreuzbandverletzungen – inklusive der Abduktoren (M. gluteus medius). Auch diese Muskelgruppe bildet hauptsächlich bei den einbeinigen Aktionen im Sport, einen wichtigen Schutz für die vordere Kreuzbandplastik.
Kreuzbandverletzung: „Henne oder Ei“
Anscheinend gehen viele Ärzte und auch Physiotherapeuten davon aus, dass das indirekte Training der Rumpfmuskulatur in der Kreuzbandriss-Reha ausreicht. Schließlich ist die Rumpfmuskulatur bei vielen Köperhaltungen bzw. -bewegungen gefordert.
Das stimmt in gewisser Weise. Doch stellt sich die Frage, haben sich die Patienten einen Kreuzbandriss zugezogen, weil schon vorher die Rumpfmuskulatur unterentwickelt war, oder ist die Rumpfstabilität jetzt dermaßen geschwächt, weil die Kreuzband-Patienten eine Trainingspause eingelegt haben. Unabhängig von der Ursache – die Rumpfmuskulatur ist ein wichtiger Präventionsfaktor gegen neue Knieverletzungen. Deshalb die gezielte Aufforderung, der Körpermitte und damit dem Bewegungszentrum mehr Aufmerksamkeit in der Knie-Reha zu schenken.
Rumpfstabilität (Core-Stabilität) verbinden die meisten Reha-Sportler mit reinem Bauchmuskeltraining. Das stimmt nur teilweise, auch die Rückenmuskulatur, Hüft- und Beinmuskulatur sind an der Rumpfstabilität maßgeblich beteiligt. Nur das perfekte Zusammenspiel aller beteiligten Strukturen erlaubt eine stabile Bewegung und Kontrolle in alle Richtungen der Flexion (Beugung), Extension (Streckung), Rotation (Drehung) und der Seitneigung.
Hüfte beeinflusst auch das Verletzungsrisiko
Wissenschaftlich Studien zeigten, dass die Hüftabduktoren und –aussenrotatoren zentral für die Verletzungsprophylaxe bei vorderen Kreuzbändern sind. Sie verhindert, dass der Sportler bei einbeinigen Aktivitäten eine Hüftgelenksadduktion und –innenrotation fällt. Diese Hüftadduktion, -innenrotation wird auch als „Position of no return“ bezeichnet, welche häufig für Risse des vorderen Kreuzbandes verantwortlich ist. Einen deutlichen Einfluss haben dabei auch die fehlende Stabilität im Rumpf und ein nicht-horizontal ausgerichtetes Becken.
Verschiedene Übungen zum Rumpf- und Knietraining, wie Side Plank, Front Plank und Single Leg Squat finden sich in sämtlichen E-Books zur VKB-Riss-Reha.
Weitere Verletzungsgründe für einen vorderen Kreuzbandriss sind ein zu starke seitliche Verschiebung des Oberkörpers über das Standbein sowie Pendelbewegungen des Oberkörpers.
Nur durch gezieltes Ausgleichen muskulärer Dysbalancen wird die gesamte Achse Hüfte-Knie-Sprunggelenk stabilisiert und damit auch die Kraftleistung gesteigert, sowie das Risiko von Sportverletzungen, insbesondere des Sprung- und Kniegelenks, reduziert.
Fazit für das Aufbautraining nach vorderem Kreuzbandriss
Das Aufbau- und Präventionstraining nach einer Kreuzbandverletzung beinhaltet:
- Ein funktional stabiles Kniegelenk, als Voraussetzung für die Sportrückkehr.
- Ein intensives, zeitgleiches Kraft- und Koordinationstraining.
- Ein vermehrtes Training der Beinrückseite.
- Eine starke hintere Oberschenkelmuskulatur.
- Ein Training der Rumpf- und Hüftmuskulatur (vor allem bei Frauen).
Noch mehr Informationen zum Aufbautraining nach Kreuzbandriss
Viele bebilderte Übungsbeispiele zum Training der vernachlässigten Hamstring-Muskeln stellt das E-Book (Special-Edition) für die Beinrückseite vor. Nach dem Training entspanne ich meine Muskulatur mit einer Faszienrolle – das „Ausrollen“ ist einfach herrlich, wenn der anfängliche Muskelkater überwunden ist.