Keine Streckung im Kniegelenk: Blick auf die Folgen

By Katrin Glunk

Februar 19, 2018


Eine der wichtigsten Faktoren für die vollste Zufriedenheit nach einer Kreuzband-OP ist die Rückkehr der kompletten Streckung im Kniegelenk. Fehlt entweder die Streckung (lat. Extension) oder Beugung (lat. Flexion) im operierten Kniegelenk fühlen die Patienten einen Unterschied zu dem besseren Status vor der Knie OP. Dies Gefühl tritt auch auf, wenn der Unterschied in der Kniestreckung nur minimal ausfällt. Wie sinnvoll ist für den Erhalt der Gesundheit ein vollständiges Bewegungsmuster? Welche Folgen ergeben sich aus einer unzureichenden Streckung nach einer Knie OP? Alle Erklärungen findest du in diesem Beitrag.

Keine volle Streckung im Kniegelenk nach Kreuzband-OP

Einer der häufigsten Komplikationen nach einer vorderen Kreuzbandplastik ist der Verlust des ursprünglichen Bewegungsbereiches. Insbesondere die Kniestreckung ist nach der Kreuzbandriss-OP ein großes Problem. Wissenschaftlichen Studien zur Folge weisen bis zu 25% aller Patienten eine eingeschränkte Streckung im Knie nach einem vorderen Kreuzbandersatz auf.

5 gravierende Folgen, die aus einer fehlenden Streckung im Knie resultieren

Der langfristige Verlust der Kniestreckung nach einer vorderen Kreuzbandersatzplastik führt zu schwerwiegenden Folgen:

(1) Erhöhtes Risiko für Knorpelschäden hinter der Kniescheibe

Das Streckdefizit im Knie provoziert eine verstärkte Abnutzung des Gelenksknorpels hinter der Kniescheibe (lat. Patella). Der Knorpelabrieb ist größer, weil die passive Schlussrotation bei einer unvollständigen Kniestreckung konstant fehlt. Das Kniegelenk muss ständig die fehlende Schlussrotation über die Oberschenkelmuskulatur (lat. M. Quadriceps) stabilisieren. Damit besteht erhöht sich die Gefahr von Überlastungsschäden, da der Quadrizepsmuskel und die Achillessehne sich zu wenig entspannen können.

(2) Eingeschränkte Bewegung vor der Knie-OP korreliert mit dem Bewegungsumfang hinterher

Eine Studie im  American Journal of Sports Medicine (2010) zeigte auch, dass eine schlechte Bewegung vor der vorderen Kreuzband-OP im Zusammenhang mit dem Bewegungsausmaß nach dem Eingriff steht. Die Reha-Zeit dauert entsprechend länger [1].

(3) Gefahr droht auch bei einen Bone Bruise nach dem Kreuzbandriss

Ebenso deutet ein Knochenprellung (engl. Bone Bruise) nach einem Kreuzbandriss auf Probleme mit der Bewegung nach der Kreuzband-OP hin. Auch hier verlängert sich die Zeit der Rehabilitation deutlich [3]. Wobei ein Bone Bruise keine Seltenheit darstellt. Etwa 70% der Kreuzbandverletzungen hinterlassen Spuren im Knochen selbst.

(4) Bewegungseinschränkung fördert die Entwicklung von Arthrose im Knie

Ebenso hat die wissenschaftliche Forschung gezeigt, dass der Verlust der Bewegung im Knie nach einer vorderen Kreuzband-OP (VKB-OP) sich negativ auf die Entwicklung einer Kniegelenksarthrose auswirkt. In einer Studie im AJSM (2012) wurden 780 Patienten mit vorderen Kreuzbandrissen (lat. Kreuzbandrupturen) über 10 Jahre untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass:

  • 29% der ehemaligen Patienten entwickelten trotz eines normalen Bewegungsausmaßes eine Arthrose im Kniegelenk.
  • 47% der Patienten entwickelten mit einer Bewegungseinschränkung im Kniegelenk eine Kniegelenksarthrose [2].

Allgemein ausgedrückt, wer sein Kniegelenk nach einer Kreuzband-OP nicht mehr vollständig strecken kann, entwickelt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Arthrose im Knie. Wobei allein schon die Tatsache eins vorderen Kreuzbandrisses (ohne Streckhemmung), das Risiko auf eine Arthrose im Knie (lat. Gonarthrose) erhöht.

(5) Rückenschmerzen und Hüftprobleme nehmen zu

Fehlt ein Teil der Kniestreckung führt das bei vielen Patienten zu einem unrunden, wenig flüssigen Gang. Mit der Zeit treten unweigerlich Probleme in der Hüfte und im Rücken auf.

Fehlende Streckung im Knie, wie viel Grad ist tolerabel?

Wichtigstes Ergebnis der oben genannten Studie war, dass bereits ein Verlust von 3-5° der Bewegung, sowohl die Unzufriedenheit der Patienten erhöhen, als auch die Entwicklung der frühen Arthrose beschleunigten. Bei den Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk von mehr als 5° zeigten sich noch dramatischere Auswirkungen.

Etwa 95% der Menschen weisen eine sogenannte Überstreckung (lat. Hyperextension) von etwa 5° im Kniegelenk auf. Damit fehlt diesen Patienten bis zur angestrebten Null-Grad-Streckung nicht 5° Grad, sondern 10° ihrer Streckung im Knie. Diese fehlende volle Streckung macht auf Dauer sehr unzufrieden und verursacht zunehmend Beschwerden.

Gehirn als Kommandozentrale für alle Bewegungen im Knie

Alle unsere Bewegungsmuster sind im Gehirn abgespeichert. Auch die der Kniestreckung – und Beugung. Fehlt ein Teil dieser Bewegung nimmt das Gehirn diese Bewegungsdiskrepanz bei jedem Schritt wahr. Das macht auf Dauer viele Betroffene unzufrieden. Das Gehirn sendet permanent, dass etwas an dem Bewegungsmuster fehlt. Dies nimmt der Patient unbewusst wahr. Folglich hilft es auch wenig, wenn der Physiotherapeut oder Kniespezialist wiederholt erläutert, dass eine 0°-Streckung zum Gehen ausreicht. Klar, dass mag in der Theorie so sein, doch gefühlt, stimmt das für den einzelnen Patienten oft nicht! Dieses Beispiel macht wieder einmal deutlich, dass eine isolierte Betrachtung einer Kniegelenksverletzung in der Praxis zu kurz greift.

Gelernt ist gelernt! – Das gilt auch für die Streckung im Kniegelenk

Wissenschaftliche Untersuchungen im Gehirn haben gezeigt, dass nicht einzelne Muskeln, sondern vielmehr Bewegungen, selbst repräsentiert sind. Beispielsweise, das Strecken des Knies beim Gehen oder das Beugen des Kniegelenks beim Anziehen einer Hose.

Bewegungsmuster Kniegelenk im Motorcortex
Bewegungsmuster vom Kniegelenk gesteuert im Motorcortex | Foto: knie-marathon.de

Ganz viele Alltagsbewegungen laufen unbewusst und automatisch ab. Beispielsweise, musst du nicht jedes Mal darüber nachdenken, wie du in die Hocke gehst. Auch das Rad- oder Autofahren laufen nach einem abgespeicherten Skirpt im Gehirn immer gleich ab. So ist der kurze Blick in den Rückspiegel oder das Schalten des ersten Gangs bei routinierten Autofahrern keinen Gedanken mehr wert – während Fahranfänger sich dabei noch konzentrieren müssen. Doch rennt plötzlich ein Kind über die Straße, dann schaltet dein Gehirn blitzschnell  auf den „bewussten“ Modus um. Genau diese Routinen in der Bewegung stellen nach einer Knie-OP das große Problem dar: Die fehlende Streckung im Kniegelenk wird beim normalen Gehen ständig wahrgenommen und löst Unzufriedenheit aus.

Gehirn optimiert seine Arbeitsweise und meldet: Unzureichende Streckung

Dennoch liegt der Vorteil des motorischen Lernens unseres Gehirns  klar auf der Hand: Laufen die Bewegungen unbewusst ab, hat das Gehirn mehr Kapazitäten, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Das Hirn meldet nur noch Abweichungen vom Normalzustand.

Und genau diese wahrgenommenen Soll-Ist Differenzen lösen die emotionale Unruhe bei den Patienten aus. Die fehlende Streckung im Kniegelenk ist ungewohnt. Bei jedem Schritt tritt die unvollständige Kniestreckung in dein Bewusstsein. Das Steckdefizit macht auf Dauer unglücklich, weil die Abweichungen zwischen dem Soll- und Istzustand nicht behoben werden. Obwohl dein Gehirn dir ständig signalisiert: Mach endlich was!

Gehirn zeigt allmählich Flexibilität bei den Bewegungen im Knie

Doch das menschliche Gehirn mit seinen Milliarden von Nervenzellen ist keineswegs ein starres Gebilde, sondern verändert sich ständig und zwar ein Leben lang. Denn durch regelmäßiges Üben wird das Areal, in dem der trainierte Körperteil – in diesem Fall das Kniegelenk – auf dem Motorcortex im Gehirn repräsentiert ist, größer und differenzierter.

Entsprechend wird ein nicht mehr benötigter Bewegungsumfang, also eine fehlende volle Streckung im Kniegelenk kleiner, bis dieses Hirnareal umfunktioniert ist und eine andere Aufgabe übernimmt. Doch dieser Umbauprozess im Gehirn benötigt Zeit. Bis dahin, empfindest du deine eingeschränkte Streckung als unangenehm. Mit der Zeit wird das Streckdefizit im Knie als „normaler“ wahrgenommen und irgendwann verschwindet das ungute Gefühl. Denn bis zu diesem Zeitpunkt sendet unser Gehirn weitere „unangenehme“ Signale. Diese großartige Hirnleistung macht durchaus Sinn, wenn man diese im Kontext der erläuterten Studienergebnisse betrachtet: Dein Körper sagt dir immer, was zu tun ist. Lediglich die Interpretation ist die Schwierigkeit.

Fehlende Kniestreckung, was tun?

Im Prinzip gibt es drei grundsätzliche Ursachen, die eine fehlende Streckung im Kniegelenk beeinflussen:

  1. Mechanische Probleme im Kniegelenk: Stichwort: Zyklops am Kreuzband, Infektionen im Kniegelenk, Bohrkanalsetzung, operative Folgen usw.
  2. Reha induzierte Probleme im Knie: Stichwort: Fehlende Koordination, muskuläre Dysbalancen, falsche Trainingsprinzipien.
  3. Psychische Hemmnisse: Stichwort: Angst und Sorgen, dass etwas im Gelenk nicht hält oder beschädigt werden kann.

Entsprechend der drei genannten Faktoren variieren die Therapien und Behandlungsformen. Doch meiner Meinung nach, wird es allmählich Zeit den Glauben aufzugeben, dass eine volle Extension mit einer 0°-Streckung im Kniegelenk gleich zusetzten ist. Vielmehr als die Null-Grad Streckung sollte das subjektive Gefühl eines einzelnen Patienten in den Fokus der Betrachtung rücken. Denn sämtliche Studienergebnisse belegen, dass die angeblich volle Streckung im Knie nicht ausreicht, um bei Patienten mit Hyperextentension das Arthroserisiko zu mindern.

Ein guter Anhaltspunkt für Physiotherapeuten und Ärzte ist die gesunde Bein-Gegenseite. Diese „gesunde“ Streckung und Beugung ist das Maß aller Dinge. Daran und nur daran sollten sich alle Kniechirurgen, Reha-Experten usw. orientieren – Vor allem, weil es die Patienten schon immer tun!

Steckhemmung nach Knie-OP richtig vorbeugen

Zusätzlich zu den erwähnten Forschungsergebnissen gibt es noch eine Reihe weitere wichtige klinische Auswirkungen:

  • Die Wichtigkeit der Rehabilitation vor jedem operativen Eingriff am Kniegelenk. Sie wird in der Kniechirurgie allgemein unterschätzt und dem Patienten zu wenig ans Herz gelegt. Ich mache in meinen Reha-Programmen oft die Erfahrung, dass Teilnehmer, die vorher wieder in ihr gewohntes Training einsteigen hinterher schneller und mit weniger Komplikationen wieder fit sind.
  • Jeder Patient ist individuell in seiner Bewegung zu beurteilen, diese Einzigartigkeit gilt es auch chirurgisch nachzustellen.
  • Der Zeitpunkt der Kreuzbandplastik (VKB-Rekonstruktion) ist ebenfalls ein entscheidender Faktor. Je beweglicher das verletzte Kniegelenk vor der Kreuzband-OP wieder ist, desto besser.
  • Wiederherstellung der Kniestreckung sollte möglichst zügig erfolgen. Das bedeutet eine Vermeidung eines Streckdefizits ist möglich, sofern alles andere perfekt passt.
  • Kein Training für Fortgeschrittene, wenn nach einer Kreuzbandersatzplastik noch keine entsprechende Streckung im Kniegelenk erreicht ist. Es gibt immer wieder Sportler, die das Joggen ohne ausreichende Bewegung im Kniegelenk anfangen.
  • Für die Konzeption eines Trainingsplanes nach Operationen gilt es zu verstehen, dass nicht einzelne Muskeln, sondern komplette Bewegungsabfolgen im Gehirn gespeichert. Diese Tatsache muss sich in den Trainingsempfehlungen wieder spiegeln.
  • Beginne mental unmittelbar nach der Knie-OP mit der mentalen Vorstellung, dass du dein Kniegelenk vollständig streckst und beugst.

Zusammenfassend kann ich dir ans Herz legen, arbeite täglich an deiner Streckung – nicht nur in der Physiotherapie. Die perfekte Streckung des Kniegelenks ist, neben dem reizfreien Gelenk, die Voraussetzung für die gesunde Rückkehr in den Alltag und Sport.

Quelle

[1] Bénédicte Quelard, MD, Bertrand Sonnery-Cottet, MD†, Rachad Zayni, MD, Roger Ogassawara, MD, Thierry Prost, MD, Pierre Chambat, MD (2010) Preoperative Factors Correlating With Prolonged Range of Motion Deficit After Anterior Cruciate Ligament Reconstruction, August 11, 2010.
[2] Shelbourne, D, Freemann H, Tinker G. (2012) Osteoarthritis After Anterior Cruciate Ligament Reconstruction:The Importance of Regaining and Maintaining Full Range of Motion, Sports Health. 2012 Jan; 4(1): 79–85.
[3] Shelbourne D, Urch SE, Gray T, Freeman H. (2012) Loss of normal knee motion after anterior cruciate ligament reconstruction is associated with radiographic arthritic changes after surgery. Am J Sports Med. 2012 Jan;40(1):108-13. doi: 10.1177/0363546511423639. Epub 2011 Oct 11.

Über die Autorin

Dipl. Psychologin Katrin Glunk | Personal Coach, Fitness- und Reha-Trainerin.

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