Das Arthroserisiko steigt: Daran ändert auch eine Kreuzband-OP nichts

By Katrin Glunk

Mai 25, 2015


Der vordere Kreuzbandriss verändert das Bewegungsverhalten des Kniegelenks und stellt mit und ohne Kreuzband-Rekonstruktion einen bekannten Risikofaktor für eine Kniearthrose (Gonarthrose) dar. Der Artikel geht der Frage nach, ob eine Kreuzbandersatzplastik nachweislich das Risiko für eine Arthrose im Knie reduziert – wie es den Patienten erzählt wird.

Höheres Arthroserisiko nach Kreuzbandersatz bleibt

Das vordere Kreuzband (VKB) ist ein wichtiger Kniestabilisator, dessen Riss (VKB-Ruptur) eine der häufigsten Knieverletzungen in Deutschland darstellt.

Der Unterschied nach einem vorderen Kreuzbandriss liegt in der Verschiebung des Schienbeinkopfes (Tibia) nach vorne. Genau diese Verschiebung misst der Kniespezialist in den verschiedenen Tests nach der vorderen Kreuzbandruptur.

Dabei ist die Verletzung des vorderen Kreuzbandes häufig mit folgenden Funktionseinschränkungen verbunden:

  • Kniegelenksinstabilität (Giving-Away),
  • Vermehrte Belastung des Meniskus (besonders mittleres Hinterhorn),
  • Verminderte Kraft der vorderen Oberschenkelmuskulatur (M. Quadrizeps),
  • Abweichende Lastverteilung im verletzten Kniegelenk.

Diese Funktionseinschränkungen verändern die Statik im Knie. Unter Belastung erhöht sich der Druck auf den Knorpel. Langfristig führt diese vermehrte Reibungskraft zum Knorpelschaden (Knorpeldegeneration) – und damit zur Entwicklung einer Arthrose [1].

Statische Sicherung ohne vorderes Kreuzband

Fehlt das vordere Kreuzband, wird das Kniegelenk statisch nur durch die gekrümmte Form des mittleren Schienbeinplateaus (Tibiaplateaus), durch die auftretenden Reibekräfte auf das mittlere Meniskushinterhorn sowie durch die hinteren Kapselanteile gehalten.

Dynamische Sicherung nach einem vorderen Kreuzbandriss

Die dynamische Sicherung, d. h. die Kniestabilität in der Bewegung geschieht zusätzlich durch die Oberschenkelmuskulatur. Dabei spielt vorwiegend eine ausgeprägte Hamstring-Muskulatur eine entscheidende Rolle, wobei deren Funktionsfähigkeit wiederum von einer adäquaten Propriozeption abhängt [2]. Auch bei der dynamischen Verschiebung des Schienbeinkopfes wird das mediale Meniskushinterhorn vermehrt belastet.

Kreuzbandriss ist wie Autofahren mit spätauslösendem Gurt

Bildlich gesprochen, wirkt ein verletztes Kreuzband auf das Kniegelenk, wie ein zu spät auslösendes Gurtsystem nach einem Auffahrunfall im Auto. Die gemessenen Zentimeter, bis das Gurtsystem stoppt – entspricht der „vorderen Schublade“ nach einem Kreuzbandriss. Genaue Informationen zu der Funktion eines Kniegelenks ohne Kreuzband erläutert der Beitrag „Kreuzbandverletzung verstehen – ohne Medizinstudium„.

Problematik der Studienlage nach vorderen Kreuzbandrissen

Die einzelnen Studienergebnisse für die Entwickelung einer Kniearthrose (ab Grad 2) nach einer VKB-Ersatzplastik variieren zwischen 10 und 90 %. Diese enormen Unterschiede lassen sich mit sehr he­terogenen Patientengruppen bezüglich Aktivitätsniveau, Beruf und Zusatzverletzungen erklären [3, 4].

Zudem basieren die Daten der Langzeitstudien teilweise auf Operationstechniken, die heutzutage nicht mehr das Mittel der ersten Wahl ist.

Unter solchen Umständen ist die statistische Zusammenfassung der Primär-Untersuchungen zu Metadaten (=Metaanalysen) angezeigt, um qualitativ höherwertige Studiendaten zu erhalten.

VKB-Riss vs. unverletzte Gegenseite

[…] Diese Metaanalyse ergab im Vergleich zur unverletzten Gegenseite ein relatives Risiko von 3,89 für die Entwicklung einer Kniearthrose nach VKB-Ruptur, unabhängig von der operativen oder konservativen Therapie [5].

VKB-Rekonstruktion vs. gesunde Kontrollgruppe

[…] Die Metaanalyse im Vergleich mit einer gesunden Kontrollgruppe ergab ein relatives Risiko für eine Arthrose im Kniegelenk nach VKB-Ersatzplastik mit und ohne Meniskusschaden von 3,62, jedoch ein relatives Risiko für eine moderate bis schwere Gonarthrose von 4,71 [6].

Frühe Arthrose nach Kreuzbandriss häufiger als vermutet

Eine Einzelstudie von Adam G. Culvenor (University of Queensland) kommt zu dem Ergebnis, dass eine Kniearthrose bereits ein Jahr nach der Kreuzband-Operation häufiger auftrete, als bislang gedacht wurde.

Die Wissenschaftler hatten 111 Teilnehmer ein Jahr nach ihrer Operation am vorderen Kreuzband mittels MRT-Gerätes kontrolliert. Die Ergebnisse zeigten in Abhängigkeit der unterschiedlichen Kompartimenten im Knie:

  • Eine mediale Arthrose bei 7 Patienten (6 %),
  • eine laterale Arthrose bei 12 Patienten (11 %).
  • Anzeichen einer retropatellaren Arthrose (Gleitlager hinter der Kniescheibe) bei 19 Teilnehmern (17 %).
Arthroserisiko nach Kreuzbandriss-OP
Arthroserisiko nach Kreuzbandriss-OP | Foto: knie-marathon.de

In der Kontrollgruppe von 20 gesunden Teilnehmern wurden keine Anzeichen einer frühen Arthrose im Knie gefunden [7].

Diese Ergebnisse sind bemerkenswert – doch auch hier gelten Einschränkungen. Die Kontrollgruppe ist verglichen mit der Patientengruppe relativ klein und der Vergleich zwischen gesunden und operierten Kniegelenke „hinkt“ etwas. Aussagekräftiger wäre eine Untersuchung zwischen Patienten mit einer konservativen und operativen Versorgung einer vorderen Kreuzbandruptur. Der Vollständigkeit halber, möchte ich auch erwähnen, dass keine MRT-Aufnahmen vor der Untersuchung zur Verfügung standen – damit kann eine bereits aufgetretene Arthrose nicht ausgeschlossen werden.

Ziel einer Kreuzbandersatz-OP

Aus den vorgestellten Langzeitanalysen lässt sich zusammenfassen, dass trotz kurzfristig guter klinischer Ergebnisse, kein eindeutig präventiver Effekt des VKB-Ersatzes bezüglich einer fortschreitenden Arthroseentwicklung zu verzeichnen ist. Begleitverletzungen in Form von Knorpelschäden und Meniskusverletzungen verschlechtern die Prognose für eine Arthrose im Knie zusätzlich.

Das bedeutet, alle Patienten mit einem gerissenen vorderen Kreuzband tragen ein erhöhtes Risiko für Knorpelschäden – egal, ob mit oder ohne Kreuzbandersatz-OP. Die Kreuzbandersatzplastik dient in erster Linie der Stabilisierung des verletzten Kniegelenks und damit der Steigerung der Alltagstauglichkeit. In der Kniechirurgie gilt eine vordere Kreuzband-Rekonstruktion als erfolgreich, wenn das Kniegelenk hinterher stabil wirkt – damit ist keine Prävention in Bezug auf Knorpelschäden verbunden.

Gründe für eine Kniearthrose trotzt VKB-Plastik

Stand heute, gibt es keinen wissenschaftlich abgesicherten Nachweis, dass eine VKB-Plastik das Risiko für eine Kniearthrose reduziert und das trotz ständig neuer Operationstechniken und intensiver Forschung im Bereich der Knieanatomie sowie Biomechanik.

Wenn also, eine erfolgreiche vordere Kreuzbandplastik (mit einer Sehne als Transplantat und Fixationsmaterial) keine Minimierung von Arthrose zuverlässig bewirkt, müssen andere Gründe eine Rolle spielen:

Zwei Erklärungsansätze bieten sich an:

  1. Das Trauma des vorderen Kreuzbandrisses reicht bereits für Entwicklung einer Kniearthrose aus bzw. erhöht dessen Risiko.
  2. Die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ist weder in seiner Anatomie, Physiologie noch Kniekinematik durch die gängigen Operationsverfahren mit (Fremd)implantaten vollständig rekonstruierbar [8].

Interessant wäre an dieser Stelle ein Vergleich zwischen einer Patientengruppe, die mit einer Healing Response-OP und einem Sehnentransplantat operiert wurden. Der Artikel „Kreuzbandplastik vs. Healing Response“ stellt dar, wann welche OP-Technik zum Einsatz kommt.

Lapidar ausgedrückt, die neue vordere Kreuzbandplastik „funktioniert“ nachweislich für den Patienten – darüber hinaus, zeigt das Sehnentransplantat keine präventive Auswirkung auf die Arthrose. Das einzige Ziel, das durch die Kreuzbandriss-OP mit Effizienz erreicht wird, ist das Eliminieren der Knieinstabilität [9].

Diesen Sachverhalt sollten sich Patienten klar vor Augen führen, die nicht unter einer ausgeprägten Knieinstabilität leiden, keine Zusatzverletzungen haben und sportlich gesehen, keine Risikosportarten betreiben. Denn auch aus den neueren Metaanalysen lässt sich noch immer kein sicherer Hinweis ableiten, dass die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes im Vergleich zur konservativen Behandlung einer Kreuzbandruptur eine eindeutige Prävention für Arthrose darstellt [10].

Erhöhtes Arthroserisiko und das Fazit für den Patienten

  • Eine gelungene VKB-Plastik reduziert nachweislich die Instabilität im Kniegelenk.
  • Allein die Angst eine Arthrose zu entwickeln, ist keine begründete Indikation für eine Kreuzband-OP ohne Begleitverletzungen.
  • Eine Verletzung des vorderen Kreuzbandes bringt unabhängig von der Behandlung (konservativ oder operativ) ein deutlich erhöhtes Arthroserisiko im traumatisierten Knie mit sich.
  • Die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes verringert das Risiko für neue Knieverletzungen aufgrund der stabileren Kniesituation.
  • Bei Patienten mit spürbarer Instabilität steigt das Risiko für Zusatzverletzung mit dem zeitlichen Abstand zwischen Trauma und VKB-Operation.
  • Es zeigt sich eine Tendenz, dass die VKB-Rekonstruktion eher die Rückkehr zur präoperativen sportlichen Aktivität (auf gleichem Level) ermöglicht als eine konservative Behandlung [11, 12].
  • Durchschnittlich reduzieren nach einem Kreuzbandriss sowohl operierte als auch nicht-operierte Sportler ihr Niveau.
  • Bei Patienten mit einer spürbaren Knieinstabilität verschlechtert sich der Befund bezüglich Meniskus- und Knorpelläsionen, je später die Kreuzbandersatz-Operation erfolgt.
  • Zusatzverletzungen an den Menisken und Knorpelschichten verschlechtern die Prognose für eine Gonathrose erheblich. Bis zu 50% höheres Arthroserisiko.
  • Eine konservative Behandlung nach einem Kreuzbandriss impliziert die zukünftige Vermeidung von Hochrisikosportarten (High-Impact-Sport).
  • Der radiologische Nachweis einer Arthrose im Kniegelenk korreliert nicht zwangsläufig mit dem subjektiven Beschwerdebild des Patienten [13].

Arthroserisiko nach Kreuzbandriss hin oder her – der zentrale Erfolgsfaktor nach einem Kreuzbandriss ist die effektive Rehabilitation.

Weitere Artikel: Kreuzbandriss-OP Ja oder Nein und der richtige Zeitpunkt für die Kreuzband-OP – sofort, später oder nie.

Quelle:
[5] [6] [10] [13] Abermann E., Hoser C., Benedetto K.-P., Hepperger C., Fink C. (2015) Arthroseentwicklung nach vorderer Kreuzbandruptur Arthroskopie 2015 28:26–30
[1] [2] [8] Allen CR, Livesay GA, Wong EK et al (1999) Injury and reconstruction of the anterior cruciate ligament and knee osteoarthritis. Osteoarthritis Cartilage 7:110–121
[3] Clatworthy M, Amendola A (1999) The anterior cruciate ligament and arthritis. Clin Sports Med 18:173–198 
[7] Culvenor A., Collins N. J., Guermazi A. Cook J. L., Vicenzino B., Khan K. M., Beck N., Van Leeuwen J., Crossley K. M. (2015) Early Knee Osteoarthritis Is Evident One Year Following Anterior Cruciate Ligament Reconstruction: A Magnetic Resonance Imaging Evaluation. Arthritis & Rheumatology Volume 67, Issue 4, pages 946–955
[4] Gillquist J, Messner K (1999) Anterior cruciate ligament reconstruction and the long-term incidence of gonarthrosis. Sports Med 27:143–156
[11] Hoffelner T, Resch H, Moroder P et al (2012) No increased occurrence of osteoarthritis after anterior cruciate ligament reconstruction after isolated anterior cruciate ligament injury in athletes. Arthroscopy 28:517–525
[12] Kessler MA, Behrend H, Henz S et al (2008) Function,osteoarthritis and activity after ACL-rupture: 11 years follow-up results of conservative versus reconstructive treatment. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 16:442–448
[8] [9] Maffulli N, Loppini M, King JB (2013) Anterior cru¬ciate ligament tears: what we already know. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 21:1704–1705

Über die Autorin

Dipl. Psychologin Katrin Glunk | Personal Coach, Fitness- und Reha-Trainerin.

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